Das Konzept Kiezkommune

Über Gegenmacht und wie wir sie aufbauen.

Einleitung

In den drei Jahrzehnten zwischen 1945 und 1973 erlebte die westliche, kapitalistische Welt „das Goldene Zeitalter des Kapitalismus“ (Eric Hobsbawm). Nach der durch den Zweiten Weltkrieg verursachten Zerstörung musste die Infrastruktur großer Teile der Welt wiederaufgebaut werden. Dieser Wiederaufbau ging aber über die einfache Herstellung des vor dem Krieg Dagewesenen hinaus, so dass das Kapitalverhältnis zahlreiche neue Bereiche des gesellschaftlichen Alltags erschloss: Vom massenhaften Siegeszug des Automobils, der zum ersten mal über die USA hinausging, über die industrielle Herstellung von Nahrungsmitteln bis hin zu einer immensen Ausweitung der Nutzungsbereiche elektronischer Geräte schuf das Wirtschaftswunder einerseits durch Vollbeschäftigung, andererseits durch massentaugliche – das heißt: billigere – Produktion von Waren einen bis dato nie da gewesenen Lebensstandard für breite Teile der Bevölkerung.

Nicht nur die Trümmer machten dem Wirtschaftswunder Platz, sondern auch die große Enttäuschung, die die beiden Weltkriege mit sich brachten, schien zugunsten eines neuen Optimismus und Fortschrittsglaubens dahinzuschwinden. Um die Menschen – leider zunächst die Herrschenden und erst Jahrzehnte später die normalsterblichen Millionen – wachzurütteln, bedurfte es einer neuen Weltwirtschaftskrise. Spätestens ab der Ölkrise 1973 wurde von den Herrschenden global eine neue Strategie erprobt. Um die Wirtschaften einiger Schwellenländer zu neoliberalisieren, schreckte man auch vor Militärputschen nicht zurück: Chile (1973), Argentinien (1976), die Türkei (1980). Nachdem sich die neoliberalen Experimente als großer Erfolg für die Herrschenden herausstellten, wurde die Sozialpartnerschaft ab den 1980er Jahre auch in den kapitalistischen Zentren von oben aufgekündigt.

Seitdem bietet das System auch in den reichsten Teilen der Welt den Lohnabhängigen immer weniger. Durch „Rationalisierungen“ und die Verlagerung der Produktion in andere Teile der Welt, wo die Arbeitskraft wesentlich billiger und die Arbeitsbedingungen wesentlich schlechter sind, kam es zu einem Ausbau des Niedriglohnsektors. Auch darüber hinaus intensivierte sich der Klassenkampf von oben – die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse und die Einführung von Hartz-IV markierten in Deutschland wesentliche Meilensteine auf dem Wege zur Verfestigung einer neuen Gesellschaftsordnung, in welcher die Kluft zwischen arm und reich unabhängig davon, ob es der Wirtschaft gut oder schlecht ging, systematisch weiter wächst. Die harmonische Welt des „Goldenen Zeitalters“ ist seit Jahrzehnten Geschichte, aber dennoch scheitert die radikale Linke an der Aufgabe, eine angemessene Antwort auf die neue Situation zu geben, dem Klassenkampf von oben einen von unten entgegenzusetzen, der über Abwehrkämpfe hinausgeht und sich gegen das herrschende wirtschaftliche und politische System richtet.

Währenddessen werden die gesellschaftlichen Brüche in der Bundesrepublik Deutschland tiefer. Eine Umfrage des „Edelman Trust Barometer“ ergab im Jahr 2017 ein starkes Misstrauen großer Teile der Bevölkerung gegen Eliten aus Wirtschaft und Politik. Eine Mehrheit der Befragten empfindet sowohl Aufsichtsratsvorsitzende von Unternehmen wie auch Politiker*innen als unglaubwürdig. „Man kann es nun einfach nicht mehr leugnen oder schönreden: Wir haben – auch in Deutschland – eine tiefgehende, langlebige, breit verankerte Vertrauenskrise“, kommentierte damals auch Edelman-Deutschland-Chefin Susanne Marell. Man habe es mit einer tiefen Abneigung gegen „die da oben“ zu tun, zitterte das Hausblatt der deutschen Oberschicht, die FAZ.

Nicht nur in Umfragen, auch in der alltäglichen politischen Arbeit ist zu spüren: Die Menschen werden wütender. Und es gibt gute Gründe für diese fortschreitende Abkehr von dem System und seinen politischen wie ökonomischen Manager*innen. Die Einkommensungleichheit zwischen uns hier unten und den kapitalistischen Profiteur*innen da oben hat sich laut einer von 100 internationalen Forschern erstellten Studie aus dem Jahr 2017 in den vergangenen Jahrzehnten drastisch verschärft 2 . Wir leben in einer Gesellschaft, in der 1,1 Millionen Menschen, obwohl sie arbeiten, aufstocken müssen, um überhaupt über die Runden zu kommen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der mehr als vier Millionen Menschen in das Hartz-IV-System aus Zwangsarbeit und Sanktionen fallen. Wir leben in einer Gesellschaft, in der mehr als vier Millionen Menschen in Armut aufwachsen.

Prekäre Arbeitsverhältnisse, soziale Isolation und Vereinsamung, die andauernde Verteuerung von Wohnraum in Großstädten – und am Ende ein Lebensabend in Altersarmut. Für Geflüchtete, Migrant*innen und Frauen* stellt sich dieser Alltag durch doppelte und dreifache Unterdrückung noch dramatischer dar.

Das ist die Realität, mit der viele in diesem Land leben müssen. Dass die etablierten Parteien, die noch jedes wohlklingende Wahlversprechen gebrochen haben, an Ansehen verlieren, ist genauso verständlich wie die Skepsis gegen die selbsternannten Qualitätsmedien, die sich im Besitz einer Handvoll großer Medienkonzerne oder des Staates befinden.

Die Vertrauenskrise birgt eine große Chance für die außerparlamentarische Linke. Denn zunächst ist die Skepsis gegen die da oben nicht nur eine richtige Einschätzung der Lage, sondern ein Anfang von Klassenbewusstsein. Davon, wie wir in den vergangenen Jahren versucht haben, auf diese Herausforderung zu reagieren und welche Erfahrungen wir dabei gemacht haben, handelt dieses Papier.

Die Linke und die Gesellschaft

Ein großer Teil der Linken, auch wir, hat sich von der eigenen Bevölkerung weit entfernt. Der Rückzug in abgehobene Debatten und moralische Selbstüberhöhung ging mit der Isolation von der Gesellschaft einher. Oft nahm man alle außerhalb der eigenen Blase als unveränderlich schlecht wahr. Der „Pöbel“ wurde in erster Linie als Bedrohung wahrgenommen.

Aus der eigenen Schwäche erwächst ein Ohnmachtsgefühl. Man traut sich gar nicht mehr zu, die Gesellschaft im Ganzen zu verändern. Wirklich glauben, dass man diese Gesellschaft zum Besseren hin umkrempeln kann, tut man nicht. Man will sich in vermeintliche Schutzräume flüchten oder gar die liberalen Eliten beim Erhalt des Status Quo unterstützen.

Wir wollen mit dieser Wahrnehmung brechen. Sie entspricht weder der Realität, noch ist sie links. Wir sind Teil der unterdrückten Klassen dieses Landes und als solche wollen wir Politik machen. Den auch unter den Unterdrückten und Ausgebeuteten vorhandenen Rassismus, Antisemitismus und Sexismus wollen wir nicht als distanzierte Kommentator*innen aus einer anderen Welt bekämpfen, sondern in gemeinsamen Kämpfen. Die als Arbeiter*innen, Erwerbslose, Jugendliche, Frauen* oder Geflüchtete schikanierten Menschen dieses Landes sind unsere Brüder und Schwestern.

Das allerdings erfordert die Rückgewinnung von Gesellschaftlichkeit in der revolutionären Linken – und damit eine umfassende Änderung unserer Politik. Wir müssen in der Lage sein, die Probleme, die Menschen umtreiben, zu politisieren und zuzuspitzen. Und wir müssen gemeinsam mit ihnen Antworten finden, die im Hier und Jetzt Anfänge von Gegenmacht aufbauen und stärken.

Das bedeutet, das Ziel einer Revolution mit den Alltagskämpfen tatsächlich zu vermitteln. In Teilbereichskämpfen aufzugehen und jenes Ziel währenddessen aus den Augen zu verlieren, bleibt immer reformistisch. Wir wollen nicht Ärztin am Krankenbett des Kapitalismus sein. Umgekehrt aber: Permanent von Revolution zu reden, ohne in realen Kämpfen verankert zu sein, bleibt eine leere Utopie ohne Kraft. Wir brauchen einen Prozess der politischen Annäherung, um auf lange Sicht gemeinsame ideologische Linien, eine langfristige Strategie und eine aus ihr folgende flexible Taktik zu entwickeln.

Für einige von uns begann die Debatte darum, wie so eine Strategie aussehen kann, vor einigen Jahren, zunächst in der Gruppe radikale linke | berlin. In diese Diskussion flossen mehrere Einsichten ein.

  • Die außerparlamentarische Linke hat die Beziehung zur Bevölkerung in Deutschland weitestgehend verloren und spielt deshalb keine relevante Rolle in der politischen Landschaft der BRD.
  • Um diesem Mangel entgegenzuarbeiten, müssen wir – so formuliert es ein vorläufiges Positionspapier – „reale Gegenmacht“ aufbauen, die durch eine „kontinuierliche Arbeit an und mit der Basis“ hergestellt werden soll .
  • Die radikale Linke muss einen konkreten Nutzen für die Menschen haben, um gesellschaftlich relevant zu werden.
  • Um diese Arbeit leisten zu können, so heißt es im selben Papier, soll eine „handlungsfähige“ Organisation geschaffen werden.
  • Die Zersplitterung der radikalen Linken hat ihre Ursache auch im Fehlen eines gemeinsamen erfolgversprechenden Projekts. Diese Zersplitterung muss in einer gemeinsamen Praxis und gemeinsamen inhaltlichen Debatten überwunden werden.

Die zunächst theoretische Orientierung auf Basisarbeit in Stadtteil, Betrieb und (Sub-)Kultur floss in mehrere Kampagnen – unter anderem die für ein Soziales Zentrum – und die Gründung des „Bündnis für bedingungsloses Bleiberecht“ mit ein. Tatsächlich handlungsleitend wurde sie aber erst mit dem Entstehen der „Kiezkommunen“, zunächst im Wedding und in Kreuzberg/Neukölln, in Folge des „Selber machen“ Kongress 2017.

Kiezkommunen als kleinste Einheiten

Die Grundidee basiert auf der Wiederbelebung des Konzepts der Räte aus der Tradition der Arbeiter*innenbewegung. Räte waren Kampforgane der Klasse gegen Faschismus, Krieg und Kapitalismus. Und zugleich Keimzellen einer neuen Form von Demokratie und Selbstverwaltung, in deren Rahmen die Menschen ihre Angelegenheiten selbst in die Hand nehmen konnten. Diese Doppelfunktion basiert auf einem dynamischen Sozialismuskonzept, das wir in den traditionellen kommunistischen Rätebewegungen ebenso finden wie in der kurdischen Bewegung, bei den spanischen Anarchist*innen oder bei den italienischen Autonomen.

Wir wollen Institutionen aufbauen, die geografisch begrenzt, aber thematisch universell sind. Wenn wir davon sprechen, dass wir »Kommunen« aufbauen wollen, dann bedeutet das, dass wir in kleinen territorialen Einheiten – Nachbarschaften, Kiezen, auf Perspektive Betrieben – Selbstverwaltungsstrukturen ermöglichen.

Soll heißen, die Kiezkommune soll sich um alle Angelegenheiten in ihrem Kiez kümmern: Soziale Fragen, Mieten-, Arbeitskämpfe, antipatriarchale Kämpfe, Aufbau sozialer Treffpunkte, Jugendarbeit, Antifaschismus. Zu diesem Zweck sollen sich in der Kommune bei Bedarf und entsprechender Größe sogenannte Komitees bilden, die für bestimmte Bereiche zuständig sind.

Diese regionale Arbeit allein bleibt aber begrenzt. Mittelfristig müssen stadtweite, deutschlandweite, europaweite, weltweite föderale organisatorische Zusammenschlüsse geschaffen werden. Die Idee ist: Die Kommunen und deren Komitees sollen in Stadtteilräten (zuständig für einen Stadtteil) und dann in Stadträten, regionalen und überregionalen Räten von unten nach oben per imperativem Mandat organisiert sein. Gemeinsame Aktionen/Kampagnen etc. können so auf der jeweils zuständigen Instanz durch die Delegierten der Kommunen geplant und von den Kommunen durchgeführt werden.

Der politische Sinn ist: durch Schaffung neuer sozialer Beziehungen soll Schritt für Schritt dem Zugriff des Staates Terrain abgetrotzt werden. Die Selbstverwaltung der Gesellschaft soll gestärkt werden.

Sowohl historisch als auch in der Gegenwart gibt es etliche Beispiele revolutionärer Bewegungen, die so oder so ähnlich organisiert waren: Von den Arbeiter-, Soldaten- und Frauenräten in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg in Deutschland und den Sowjets im revolutionären Russland zur selben Zeit über die „Widerstandskomitees“ (direnis komiteleri) der türkischen revolutionären Gruppe Devrimci Yol, die Stadtteilkomitees der italienischen „lotta continua“ in den 1970ern bis zum heutigen Aufbau einer neuen Gesellschaft im mexikanischen Chiapas oder im nordsyrischen Rojava. Aus all diesen Beispielen – ihren Niederlagen wie Erfolgen – können wir lernen, keines können wir kopieren.

Denn wie die Organe der Gegenmacht aufgebaut werden, hängt maßgeblich von der konkreten Situation ab. Der Vorteil ist: In den jeweiligen Kiezkommunen sollen die Genoss*innen organisiert sein, die in den Stadtteilen leben und/oder arbeiten. Sie kennen die sozialen Dynamiken, haben ein soziales Umfeld und wissen um die Probleme der Nachbarschaft. Das Konzept sieht zwar eine gemeinsame Koordinierung der Kommunen vor, aber die lokale Politik wird von denen gemacht, die am besten wissen, wie der jeweilige Kiez funktioniert.

Populäre Arbeitsweise

Wenn wir so arbeiten, stellen sich ganz konkrete Herausforderungen. Da die außerparlamentarische Linke dieses Landes sich mehrheitlich über viele Jahre aus der Gesellschaft zurückgezogen hat, müssen wir die Arbeit in und mit der Gesellschaft erst wieder neu erlernen. Der erste Schritt betrifft dabei das Identifizieren der richtigen Themen: Was bewegt die Menschen im Kiez wirklich? Anhand welcher Themen lassen sich die Leute organisieren? Welche Schichten/Klassen der Bevölkerung wollen wir erreichen? Welche sind die Themen, die sich zuspitzen lassen und antikapitalistisches Potential haben? Dabei geht es auch darum, die eigene Subjektivität in diesen Kämpfen wiederzufinden, sich mit ihnen auf einer persönlichen Ebene zu identifizieren und unsere eigenen Verhaltensweisen, unseren Umgang miteinander und unsere eigenen Positionen innerhalb der Gesellschaft zu reflektieren.

Aber nicht nur der Inhalt ist eine Herausforderung, sondern auch die Form. Wie reden wir, damit wir verstanden werden? Wie gehen wir mit Widersprüchen um? Wie präsentieren wir uns, unsere Demonstrationen und unsere Räume? Wie schreiben wir verständlich und wie organisieren wir Möglichkeiten, sich an der täglichen politischen Arbeit zu beteiligen?

In den Kiezen spielt die Schaffung von sozialen Treffpunkten, die zugleich eine politische Kultur vermitteln sollen, eine große Rolle. Offene Cafés, die zugleich Orte sind, an denen die Nachbarschaft sich mit ihren Problemen an uns wenden kann und wir zusammen Lösungen erarbeiten; Sporträume zum gemeinsamen Trainieren und Erlernen von Selbstverteidigung; Orte zur autonomen Selbstorganisierung von Frauen*, Orte kollektiver Bildung und Diskussion – je nach Bedarf in dem konkreten Gebiet, in dem man arbeitet.

Diese Infrastruktur zu schaffen oder vorhandene Infrastruktur für politische Arbeit nutzbar zu machen, ist unserer Auffassung nach einer der ersten notwendigen Schritte im Aufbau von Kiezkommunen. Denn schon das Gestalten und Erfüllen mit Leben der jeweiligen Orte bietet eine große Palette kollektiver Teilnahmemöglichkeiten.

Initiativkraft und Basis

Diejenigen, die koordiniert anfangen, die jeweiligen Basis-Institutionen aufzubauen, nennen wir Initiativkraft. Deren Aufgabe soll es sein, die Idee der Selbstorganisierung voranzutreiben und ihre gegen Ausbeutung und Unterdrückung gerichteten Momente herauszuarbeiten. Die Initiativkraft ist dabei kein exklusiver Kreis, der sich über „die Massen“ erhebt. Sie ist nichts anderes als die kollektive Organisierung von denen, die bereit sind, die ersten Schritte zu gehen. Ihre hauptsächliche Aufgabe ist deshalb auch, sich überflüssig zu machen, indem revolutionäre Ideologie und eine ihr entsprechende Kultur kollektiven Zusammenlebens in breiteren Teilen der Bevölkerung entwickelt, verankert und lebendig gemacht wird.

Dadurch aber haben die Genossinnen und Genossen, die sich als Initiativkraft begreifen, eine besondere Verantwortung. Sie müssen Vorbilder werden, in der Art und Weise, wie sie leben undmiteinander umgehen. Niemand wird diejenigen, die untereinander keinen solidarischen Umgang finden, zutrauen, ihn in ganzen Nachbarschaften und Betrieben hervorbringen zu können.

Initiativkraft kann man nicht werden, indem man sich einfach dazu ausruft. Vielmehr ist es wichtig, an der Überwindung der eigenen Fehler und Schwächen gemeinsam zu arbeiten. Das beinhaltet das Entwickeln gemeinsamer revolutionärer Werte sowie von Werkzeugen der Konfliktbewältigung innerhalb der Kollektive. Kollektivfeindlichen Haltungen wie patriarchale Verhaltensweisen und liberalen Egoismus muss man gemeinsam entgegenwirken.

Wenn wir tatsächlich Menschen wieder Hoffnung in eine radikale Linke vermitteln wollen, müssen wir beginnen, uns selbst wieder Ernst zu nehmen. Die Erfolge, die dann eintreten, verstärken ihrerseits die Lust am Kämpfen für die befreite Gesellschaft.

Basisorganisierung und Gegenmacht

Wenn wir an der Basis arbeiten, dann dürfen wir zugleich das große Ganze nicht aus dem Blick verlieren. Letztlich ist der Gegner international vernetzt, die meisten Probleme, die lokal auftreten, lassen sich nicht langfristig lokal lösen. Bleiben etwa die Kämpfe gegen Miethaie oder Konzerne punktuell begrenzt, können sie nicht dauerhaft erfolgreich sein. Zudem reicht die Entwicklung des Bewusstseins meistens nicht darüber hinaus, dass die jeweiligen Betroffenen ihr eigenes Problem irgendwie lösen wollen und nach dem Lösen dieses Problems wieder von politischem Protest Abstand nehmen.

Von Beginn an soll daher der Aufbau der lokalen Organe der Gegenmacht mit ihrer Koordinierung und Verknüpfung auf überregionalem Niveau einher gehen. Wir haben dabei festgestellt, dass es berlin- und bundesweit wie auch international viele Bewegungen gibt, die derzeit an einer ähnlichen Neuausrichtung revolutionärer Politik arbeiten.

Gegenmacht bedeutet für uns zunächst mehreres: Zum einen die Fähigkeit, Dinge, die uns nicht passen, verhindern zu können. Wenn ein Nazi-Aufmarsch nicht durch den Kiez läuft, ist das Gegenmacht. Wenn ein Hotelbau nicht umgesetzt werden kann, ist das Gegenmacht. Wenn ein Betrieb eine Kündigung zurücknehmen muss, ist das Gegenmacht.

Zum anderen besteht Gegenmacht aber nicht nur im Verhindern, sondern auch im Aufbauen und Entwickeln. Wenn wir unser eigenes Zusammenleben organisieren können, ist das Gegenmacht; wenn im Kiez nicht die Bullen, sondern die Kommune gerufen wird, um Konflikte zu regeln, ist das Gegenmacht; wenn wir unsere Reproduktionsarbeit kollektiv gewährleisten können, ist das Gegenmacht.

Damit Gegenmacht entsteht, ist auch die Entwicklung und Vermittlung eines revolutionären Bewusstseins nötig. Eine Idee wird dann zur wirklichen Kraft, wenn sie viele Leute ergreift.

Gegenmacht entsteht durch den Aufbau von Kampforganen, die zugleich Keimformen zukünftiger kollektiver Selbstorganisierung der Gesellschaft sind. Wie auch immer wir das nennen – ob Kommune, Rat, Komitee -, und wo auch immer wir solche Organe aufbauen – ob in Schulen, Stadtteilen, an Universitäten oder in Betrieben -, wir setzen dadurch einen neuen Punkt in einem Netz, das wir letztlich global spannen müssen, um eine handlungsfähige Linke neu zu erfinden.

Gegenmacht und dynamisches Sozialismus-Verständnis

Unser Verständnis von Gegenmacht hat nichts damit zu tun, sich allein das Hier und Jetzt bequemer einzurichten. Es geht nicht nur darum, sich Inseln der Freiheit zu schaffen und sich damit zufrieden zu geben.

Vielmehr baut es auf einem dynamischen Sozialismus-Verständnis auf. „Wir haben uns dem Sozialismus nie utopisch angenähert. Er war für uns nie irgendetwas ganz weit Entferntes. Wir haben eher geschaut, wie sich Freiheit, Gleichheit und Sozialismus verwirklichen lassen. Wie können wir anfangen, diese Prinzipien in unserem Leben umzusetzen? Wir haben immer Hoffnungen und Utopien gehabt, die wir nicht auf zukünftige Generationen projizieren wollten. Stattdessen haben wir angefangen, unsere Hoffnungen und Utopien im Hier und Jetzt umzusetzen“, schrieb die Revolutionärin Sakine Cansiz.

Die Zerschlagung von Staat und Kapital lässt sich nicht als aus dem Nichts kommender Akt des Putsches verstehen. Vielmehr geht ihr ein langer Prozess der Verschiebung von Kräfteverhältnissen voran. „Der Staat ist ein Verhältnis, eine Beziehung zwischen Menschen, ist eine Art, wie sich Menschen zueinander verhalten; und man zerstört ihn, indem man andere Beziehungen eingeht, indem man sich anders zueinander verhält“, schrieb Gustav Landauer während der bayerischen Räterepublik 1919 [Aus unserer Sicht ist der Staat allerdings nicht nur eine Beziehung zwischen Menschen, sondern auch ein materielles Verhältnis.] . Es gelte „Institutionen zu schaffen, die eine wirkliche Gemeinschaft“ der Menschen herstellen.

Dass die Herrschenden dieses Schaffen anderer Beziehungen, sobald es ihnen gefährlich wird, blutig unterdrücken, zeigt auch die Geschichte der Räterepublik, von der Landauer schrieb. Letztlich also wird auch an einem bestimmten Punkt des Aufbaus von Gegenmacht der Angriff der Herrschenden kommen. Bevor sie nicht ganz und vollständig entmachtet sind, bleibt auch der Aufbau von Gegenmacht vorläufig. Ein dynamisches Sozialismus-Konzept schließt insofern immer die Notwendigkeit umfassender Selbstverteidigung mit ein.

International und lokal

Von Beginn des Aufbaus an muss Internationalismus – also der Austausch und die Vernetzung mit revolutionären Bewegungen in anderen Ländern – in die politische Praxis eingebunden werden. Wir können uns weder in unserer Analyse der Herrschafts- und Ausbeutungsverhältnisse auf den nationalstaatlichen Rahmen beschränken, noch in der Entwicklung von Strategien gegen selbige. Zumindest eine gesamteuropäische Koordination von Basis-Bewegungen mit revolutionärem Anspruch muss geschaffen werden.

Zudem ist die Verbindung zu größeren Bewegungen mit demselben Anspruch – z.B. der kurdischen Befreiungsbewegung oder den Zapatistas – eine Verpflichtung. Diese revolutionären Prozesse bilden heute die vorderste Front gegen Imperialismus und wieder erstarkenden Faschismus. Sie zu verteidigen ist eine Verpflichtung, die wir auch auf der kleinsten Ebene unseres eigenen Aufbauprozesses haben. Gleichzeitig ist auch klar: Die wirkungsvollste Solidarität, die wir mit anderen Bewegungen üben können, ist die Veränderung der Kräfteverhältnisse in Deutschland selbst durch den Aufbau einer revolutionären Bewegung.

Ohne letztlich weltweite Gegenmacht werden revolutionäre Bewegungen keinen langfristigen Erfolg haben.

Fragend schreiten wir voran.

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