Der Kitt der Gesellschaft bröckelt

Krisenkapitalismus und Pandemie belasten unsere Psyche und gefährden den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Der Text basiert auf Diskussionen der AG Gesundheit der Frauen*kommune zum Thema Psyche, enthält Teile aus dem Artikel „Prekäre Psyche – Der lange Pandemiewinter trifft nicht alle gleich schwer“ (Kiezzeitung Plumpe, erschienen März 2021), sowie aus Interviews mit verschiedenen Frauen, die im Wedding leben, die wir im November 2020 und April 2021 geführt haben.

Lockdown und Kontakteinschränkungen sollen uns vor Ansteckung mit dem Coronavirus schützen, da dadurch Infektionsketten unterbrochen und leichter nachvollziehbar gemacht werden. Jedoch hat die Isolation nachweislich auch erhebliche Auswirkungen auf unsere Psyche. Mehrere Zeitungsartikel und Studien weisen nun auf die psychischen Folgen hin und erfahren gerade vor dem Hintergrund verlängerter Einschränkungen große Beachtung. Allerdings sind Vereinzelung und zunehmende psychische Belastung nicht erst seit Ausbruch der Pandemie Probleme, die viele von uns betreffen. In der Krise wird deutlich, wie sich der Kapitalismus und damit verwobene patriarchale und rassistische Verhältnisse auf den gesellschaftlichen Zusammenhalt auswirken.

Studien belegen – Betroffen sind vor allem Frauen und Kinder

Studien belegen nun unter anderem eine erhöhte Depressivität und Ängstlichkeit. Als besonders betroffen gelten Kinder und Jugendliche, Frauen, Menschen mit psychischen „Vorerkrankungen“ und Beschäftigte im Gesundheitswesen. So geben 44% der teilnehmenden Frauen einer Befragung im Sommer 2020 an, die allgemeinen Herausforderungen wären „größer oder viel größer geworden“. Zudem würden 46% der Frauen bereits an psychischen „Erkrankungen“ leiden, die zeitlich vor die Pandemie zurückreichen.¹  Eine Befragung des Uniklinikum Hamburg, die zwischen Dezember 2020 und Januar 2021 stattfand, sieht außerdem bei 33% der Kinder Hinweise auf eine psychische Belastung und stellt wenig überraschend fest, dass Kinder armer Familien besonders betroffen sind.²

„Es ist es ständiger Stressfaktor da. Wir können uns auf der Arbeit nicht schützen. Wir können bei der Arbeit mit den Kindern keine Maske tragen, Kinder haben meistens keine Symptome und werden auch nur selten getestet. Die Situation ist unzumutbar.“ – Rahel, Erzieherin

Die ungleiche Verteilung von Sorgearbeit ist psychisch belastend

Die erschwerten Bedingungen für Kinderbetreuung und Erziehung, sowie zusätzlich anfallende häusliche Tätigkeiten (wie Kochen, Waschen, Putzen) belasten aufgrund der patriarchalen Rollenverteilung besonders Frauen. Frauen übernehmen häufig die Versorgung ihrer Angehörigen in „der zweiten Schicht“, zusätzlich zur Lohnarbeit oder auch in Vollzeit: für diese Tätigkeiten haben Feminist:innen den Begriff der Sorgearbeit geprägt. Teilweise sind diese Dienstleistungen als traditionelle Frauenberufe in den Arbeitsmarkt integriert worden, wie z.B. Pfleger:in oder Erzieher:in.

Sorgearbeit findet aber auch immer noch wesentlich unsichtbar und unbezahlt zu Hause statt. Die unverhältnismäßige Verteilung der Sorgearbeit führt zu Stress und psychischer Belastung. Frauen, trans, inter und nichtbinäre Menschen (*) erfahren zudem häufig Gewalt durch Partner oder männliche Angehörige, mit schweren Folgen für Psyche und körperliches Wohl allgemein. Auch diese patriarchale Gewalt findet oft für andere unsichtbar zu Hause statt und wird durch materielle Abhängigkeiten aufrechterhalten, die sich in Krisenzeiten für Betroffene noch erschweren.

„Gerade im Nachtdienst bin ich sehr sensibel für schwere Krankheitsverläufe. Ich fühle mich isoliert und einsam mit meinen Gefühlen. Mitleid und Sorge um Patient:innen lassen mich nach der Arbeit kaum zur Ruhe kommen. Wenigstens bin ich nach vier Nächten zu erschöpft, um zu weinen …“  – Eileen, Pflegerin

Der Kitt bröckelt: Sorgearbeit muss kollektiv organisiert sein!

Krisen wie die Pandemie machen uns verwundbar, weil sie ganz wesentlich den gesellschaftlichen Zusammenhalt gefährden. Wiederkehrende Krisen treten allerdings unabhängig von äußeren Faktoren, wie dem Ausbruch des Coronavirus, im Kapitalismus immer wieder auf. Dass die Versorgung menschlicher Bedürfnisse an das Erwirtschaften von Profit geknüpft ist, führt zu massiven Problemen. Wenn Krankenhäuser darauf ausgerichtet sind, Gewinn zu machen, statt eine umfassende und zugängliche Versorgung zu gewährleisten, leiden wir als Beschäftigte und als Patient:innen. Lohnkosten werden gespart, für Patient:innen haben überlastete Pfleger:innen immer weniger Zeit. In Psychiatrien wurden Patient:innen mit Ausbruch des Virus unvorbereitet entlassen, die Krankenkassen streichen Gelder für Selbsthilfeangebote. Selbstfürsorge reicht nicht  – wir alle sind darauf angewiesen, dass die Versorgung unserer Bedürfnisse auf sinnvolle Art und Weise organisiert wird. Wir alle brauchen Zugang zu Wohnraum, medizinischer Behandlung und lebenswichtigen Gütern. Wir brauchen aber auch genügend Zeit, um uns zu erholen, statt unser Leben dem Zwang der Lohnarbeit unterordnen zu müssen. Im Kapitalismus muss Sorgearbeit als Dienstleistung wirtschaftlichen Gewinn erzeugen oder sie wird vollständig ins Private verlagert und fällt dort vor allem Frauen zur Last. Das wollen wir nicht länger hinnehmen. Sorgearbeit muss sich an unseren Bedürfnissen orientieren, nicht am Profit. Sie muss gemeinschaftlich organisiert sein, so dass sich alle unabhängig vom Geschlecht nach ihren Fähigkeiten daran beteiligen.

„Als Hartz-IV-Empfängerin und Psychiatrie-Erfahrene lebe ich ohnehin gesellschaftlich isoliert. Selbsthilfegruppen und ehrenamtliche Tätigkeiten sind von einem auf den anderen Tag weggefallen.“ – Selma, Erwerbslose

Psychiatrie-Erfahrene zwischen Stigma, Armut und institutioneller Gewalt

Menschen mit psychischen „Vorerkrankungen“ gelten als besonders gefährdet. Dabei kommen Betroffene wenig zu Wort, um ihre Situation zu schildern. Psychiatrie-Erfahrene befinden sich häufig an einer Schnittstelle von Stigmatisierung und Armut: auch vor dem Lockdown lebten viele Betroffene prekär und isoliert, sind z.B. häufiger von Erwerbslosigkeit oder Wohnungslosigkeit betroffen. Selma beschreibt das so: „Man fällt völlig aus der Bahn, Kontakte zu Mitschüler*innen brechen ab. Je älter man wird, desto isolierter fühlt man sich, wenn man keinen Ausbildungsplatz und keine Arbeit hat.“ Selbsthilfe und Psychiatrie-kritischer Aktivismus problematisieren außerdem den psychiatrischen Krankheitsbegriff. Nicht alle Betroffenen beschreiben ihre Erfahrungen als krankhaft, sondern z.B. als Lebenskrisen, die eine Reaktion auf unhaltbare Lebensbedingungen sein können. Sie sehen sich als unproduktiv und nicht gesellschaftsfähig abgestempelt. Kritisiert wird auch die Anwendung von Zwang und Gewalt in der Psychiatrie, die Menschen in Krisensituationen zusätzlich schädigt und unvereinbar mit der UN-Behindertenrechtskonvention ist.

„Seit Corona bin ich entweder im Homeoffice oder mit dem Kind, Putzen, Kochen zugange. Wenn dann abends endlich Ruhe ist, fehlt mir die Kraft für alles weitere. Wir können auch gar nix mehr planen, da ja eventuell schon in der nächsten Woche die Kita wieder zu macht.“  – Franziska, Universitätsangestellte

Wedding: jung, migrantisch, prekär

Wedding, als ein überdurchschnittlich junger, migrantischer und bevölkerungsreicher Stadtteil, hat hohe Zahlen, was Jugend- und Langzeitarbeitslosigkeit sowie Kinder- und Altersarmut betrifft. Die Folgen der Pandemie und der verlängerten Maßnahmen treffen also eine Bevölkerung, die auch ohne Lockdown, Kurzarbeit und Kündigungswellen schon unter Druck steht. Selma und ihre Tante Nihal leben beide im Wedding, sind Psychiatrie-Erfahrene und auf Sozialleistungen angewiesen. Selma ist seit ihrem Psychiatrieaufenthalt arbeitslos, Nihal ist Alleinerziehende und muss aufstocken, um ihre Miete zahlen zu können. Existenzängste und Vereinzelung sind nicht erst seit letztem Jahr Probleme, die immer mehr Menschen betreffen und zu psychischen Leiden führen können. Teure Mieten, eine Deregulierung von Arbeitsschutz und das Fehlen nicht-kommerzieller Begegnungsorte tragen zu dieser Entwicklung bei. Dabei sind es häufig Migrant:innen und migrantisierte Menschen, die schlecht bezahlt werden und bei der Suche nach einem Arbeitsplatz oder einer Wohnung diskriminiert werden.

Auch die alltägliche Schikane von Jobcenter, Ausländerbehörde und Sozialamt, sowie rassistische Polizeikontrollen und drohende Abschiebungen haben psychosoziale Folgen. Ende März informierte der Flüchtlingsrat Berlin über den Suizid eines jungen Mannes aus Guinea und nannte die Berliner Abschiebepolitik zurecht lebensgefährlich. Sammelabschiebungen laufen ungehindert von der Pandemie weiter und verbreiten bei den Betroffenen ein Klima der Angst.³

„Die Angst begleitet einen täglich, dass man sich selber ansteckt und damit ooch im privaten Bereich andere anstecken kann. Dass wir uns selber schützen und ooch andere. Das ist wichtig.“– Nihal, Betreuerin im Seniorenheim

Gegen die Vereinzelung: praktisch, solidarisch, lokal

Wir betrachten mit Sorge, dass wissenschaftsfeindliche Rechte die derzeitige Situation nutzen, um Verschwörungserzählungen bei verunsicherten Menschen zu verbreiten. Die Akteur:innen hinter dieser Mobilisierung sind jedoch nicht „psychisch krank“, sie haben eine politische Agenda. Es reicht nicht aus, Falschinformationen oder verdeckte faschistische Propaganda von Corona-Leugner:innen offenzulegen. Wir müssen ihnen mit einer entschlossen klassenbewussten, feministischen Perspektive entgegentreten, die die Verunsicherung und Existenzängste von Menschen in unserer Nachbarschaft ernstnimmt. Deshalb wollen wir praktische Solidarität in unsere Kieze tragen, um uns gegenseitig zu unterstützen. Mit unserem Ladenprojekt in der Buttmannstr. 1A wollen wir einen Begegnungsort für Nachbar:innen schaffen, um sich auszutauschen und gemeinsam zu organisieren. Wir sind für euch unter Beachtung von Hygienevorkehrungen weiterhin Freitags von 14 bis 18 Uhr ansprechbar. Hier in unserer Nachbarschaft wollen wir die Voraussetzung dafür schaffen, Vereinzelung, staatlicher Kontrolle und dem Zwang der Lohnarbeit etwas entgegensetzen zu können.

Wohin in der Not?

Falls du selbst in einer akuten Krise bist, z.B. eine schlimme Panikattacke hast oder eine Selbsttötung ernsthaft in Erwägung ziehst, wende dich an eine Freund:in oder Vertrauensperson und lass dich zu einer Notfallpraxis bringen:

Bei Kindern und Jugendlichen ist das die Kinderrettungsstelle am Charité Campus Virchow-Klinikum, Erwachsene können sich an die Rettungsstelle am Jüdischen Krankenhaus wenden. Auch wenn du keine Krankenversicherung hast, solltest du dort versorgt werden.

www.charite-ppi.de/metas/person/person/address_detail/cvk
www.juedisches-krankenhaus.de/kliniken-und-medizinische-zentren/rettungsstelle.html

Bei Suizidgedanken kannst du dich Freitags zwischen 20 und 23 Uhr bei der Hotline „Safe Haven“ des Bundesverband Psychiatrie-Erfahrener melden: 0234/ 58442693

Der Bundesverband hat auch an sechs Tagen die Woche verschiedene Beratungen, die von Betroffenen durchgeführt werden: bpe-online.de/kontakt-beratung

Wenn du von häuslicher Gewalt betroffen bist, kannst du beim BIG-Hilfetelefon anrufen:
030 611 03 00  www.big-hotline.de

Für Mädchen aus einer migrantischen Familie, die häusliche Gewalt erfahren, gibt es außerdem eine Online-Beratung von der anonymen Kriseneinrichtung „Papatya“:  beratung.papatya.org (mehrspraching auf Deutsch, Türkisch, Englisch)

¹Die Studie wurde im Auftrag der AXA Konzern AG durchgeführt, die auch ein eigenes Angebot damit bewirbt, das wir so nicht empfehlen wollen https://www.axa.de/presse/unsichtbare-dritte-welle-corona

² https://www.aerztezeitung.de/Politik/Wie-die-Corona-Pandemie-Kinder-psychisch-belastet-417124.html

³Klima der Angst – Weddinger Vereine fordern sofortigen Abschiebestopp

«Klima der Angst» – Trotz Pandemie schiebt Berlin wieder ab

 

(*) Wenn wir von Frauen, trans, inter und nichtbinären Menschen sprechen, meinen wir:

alle Frauen und alle Menschen, deren Geschlecht in einer patriarchalen Gesellschaft als unzulässig gilt, weil es nicht in den engen Rahmen biologistisch begründeter Geschlechterrollen passt. Also alle Frauen (mit trans Identität und ohne), trans Männer, intergeschlechtliche Menschen und Menschen mit nichtbinärer Geschlechtsidentität, die weder Frauen noch Männer sind. Kommt auf uns zu und fragt uns gerne, wenn ihr diese Begriffe nicht versteht.