Kiezkommune Wedding fragt nach

„Wer nicht untersucht darf nicht mitreden!“

Kapitel 1 /// Koloniestraße

Am vergangenen Samstag fand unsere erste militante Untersuchung im Wedding statt. Ziel war es, die Probleme und Herausforderungen mit denen unsere Nachbar*innen konfrontiert sind zu erfragen und gleichzeitig politische Bewusstseinsbildung zu leisten.

Schon Karl Marx regte 1880 mit dem Fragebogen für Arbeiter*innen eine intensive Selbstreflexion der Arbeitenden mit ihrer Lebenssituation an. Weiter geführt und vertieft wurde dies in den 1960er Jahren von den Operaisten in Italien und dem Konzept des „operaio sociale“. Als ein sehr wichtiges Instrument zur Erreichung der Arbeiter*innen in den italienischen Fabriken, wurde die militante Untersuchung als Aktionsform entwickelt. Eine Untersuchung konkreter Arbeitsbedingung die nicht nur einfach Wissen produzieren, sondern vielmehr zur politischen Bewusstseinsbildung der Arbeiter*innen beitragen sollte. Dabei sollte auch der positivistische Wissenschaftsansatz und die damit einhergehende Teilung von „Wissenschaftler“ und dem zu Untersuchenden Subjekt gebrochen und überwundenen werden. In Italien kam es durch die Organisierung der operaistischen Gruppen (Potere Operaio, Lotta Continua), unterstützt durch die verschiedenen Untersuchungen, zu einer sehr intensiven Zusammenarbeit von Student*innen und Arbeiter*innen, abseits von Gewerkschaften und Parteien. Erfolgreich war dies besonders in der Fiat-Mirafiori oder bei Chicago Bridge in Genua.

Das Konzept der militanten Untersuchung ist also nicht neu. Wir sind der Überzeugung, dass es nach wie vor das Potenzial birgt, sozialen Widerstand im Alltag aufzuspüren und Organisationsprozesse einer weit gefassten prekarisierten Arbeiter*innenklasse anzustoßen. Für uns als eine Gruppe im Aufbau ist es darüber hinaus wichtig, durch die Befragung mögliche Probleme zu identifizieren, über die wir zuvor vielleicht noch nicht nachgedacht haben.

Als Ort haben wir uns für das Umfeld der Koloniestraße entschieden.

In diesem Gebiet sind gleich mehrere Investoren zu Gange, die Mietpreiserhöhungen und Verdrängung im Wedding voran treiben. Exemplarisch seien hier die Studentenappartements von Campus Viva und der Verkauf der Uferhallen an die Samwer-Brüder, Gründer von Rocket Internet und Anteilseigner von Zalando, genannt. In diesem Zusammenhang sticht auch die Crystal Snowdrop Property GmbH, einigen vielleicht besser bekannt unter ihrem alten Namen Vierte D.V.I. Berlin Portfolio GmbH, besonders hervor. Crystal Snowdrop Property ist dabei Eigentümer der Häuser 2,2a,6,6a,6b,7 und 8 in der Koloniestraße und wurde 2015 bekannt durch den Versuch, die Bewohner*innen dieser Häuser durch 100%ige Mieterhöhungen zu entmieten. Das Geflecht um Crystal Snowdrop besteht dabei aus verschiedenen Immobilienfirmen, aber auch Hausverwaltungen sind Teil dessen. Die Methode, die sie in der Koloniestrasse angewendet haben (billig Häuser, meist ehemals geförderte Sozialbauten, kaufen und die Mieten dann soweit erhöhen, dass es für die Mieter*innen unmöglich wird zu bezahlen), kann dabei getrost als Standartpraktik dieser Firmen bezeichnet werden. Auch ein neues Management unter Eldad Marciano und die neuen, sehr fantasievollen Firmennamen wie eben Crystal Snowdrop Property oder Mintcream Tilia Property haben daran nichts geändert.

Weitere Gründe warum wir uns für die Koloniestraße entschieden haben, sind zum einen die traditionsreiche widerständige Geschichte dieser Straße. Sie war schon immer ein sozialer Brennpunkt und vor 1933 wohnten hier besonders viele KPD Aktivist*innen. Unter anderem Paul Julius, ein Kommunist, der bis zu seiner Verhaftung nicht nur die kommunistische Betriebszelle in den Askania-Werken geleitet hat, sondern auch für die illegale Arbeit in Berlin Marienfelde und Berlin Mariendorf verantwortlich war. Auch sei noch das Arbeiter*innen Lokal „Zur Krücke“ erwähnt, die bis 1980 ein wichtiger Bestandteil kommunistischer widerständiger Geschichte war.

Zum anderen, und das hat auch unmittelbar Bezug zur Verdrängungsproblematik, gab es 2015 eine erfolgreiche Selbstorganisierung der Bewohner*innen der Koloniestraße 2, 2a, 6, 8 und 10. Eben jenen Gebäuden die heute der Crystal Snowdrop Property GmbH gehören. Als die ehemaligen Sozialbauten verkauft wurden, stiegen die Mieten plötzlich auf 12€ pro qm, was weit über dem Mietspiegel des Kiezes liegt. Es war nur dem Widerstand der Nachbar*innen zu verdanken, dass die Mieten zumindest auf den höchst-möglichen Satz des lokalen Mietspiegels gesenkt werden konnten.

Diese Faktoren ließen uns auf ein größeres Potential für eine erfolgreiche Untersuchung hoffen, als es vielleicht in anderen Teilen des Weddings der Fall gewesen wäre.

Am 10.11.18 war es dann soweit. Vom guten Wetter unterstützt und mit einem ausgearbeiteten Leitfaden, Stift und Papier bewaffnet, haben wir unsere Nachbar*innen an ihrer Haustür und an unserem Infotisch angesprochen. Der Verlauf des Gespräches und eine mögliche Aktivierung der Gesprächspartner*innen, ist dabei stark davon abhängig, wo das Gespräch geführt wird. Am Infotisch kommen die Menschen mit Interesse an unseren Ideen eher auf uns zu und sind einfacher für eine Befragung zu gewinnen. Anders verhält es sich an der Wohnungstür. Hier liegt die Initiative zu 100% bei den Aktivist*innen. Die ersten 15 Sekunden entscheiden dabei, ob die Tür wieder zu gemacht wird oder nicht. Der Verlauf des Gesprächs ist viel mehr davon geprägt zuzuhören und auf die legitimen Probleme der Bewohner*innen zu reagieren.

Am Beginn der Straße waren wir während der Befragung mit einem Infostand präsent.

Unser Fazit nach unserer ersten Stadteilbefragung ist auf jeden Fall gemischt. Der Infostand lief sehr gut, wir hatten dort viele interessante Gespräche, bis hin zur Aktivierung von Menschen für zukünftige Aktionen. Die Türgespräche waren, wie schon erwähnt, etwas komplizierter. Schon allein die Tageszeit ist entscheidend, ob die Tür geöffnet wird oder nicht. Wenn die Tür dann offen war, hatten wir direkt mit dem nächsten Problem, der Sprachbarriere zu kämpfen. Diese stellt ein generelles Problem im Organisierungsprozess dar. Anschließend ist viel Geschick gefordert, um im Gespräch einen Bogen zur Aktivierung der Gesprächsparter*innen zu schlagen und über die Rolle als Kummerkasten und Sozialarbeiter*in hinaus zu gehen. D.h. nicht „nur“ die an sich legitimen Probleme anzuhören, ohne die Möglichkeit aufzuzeigen, dass sich an diesen etwas ändern lässt. Ohne Aktivierung erfolgt logischerweise keine Organisierung. Deswegen ist es von großer Bedeutung diesen Bogen zu schlagen, um den vollen Mehrwert aus dem Gespräch zu ziehen. Wir mussten feststellen, dass dies sehr viel Empathie und Können der Aktivist*innen fordert. Nichtsdestotrotz müssen wir auch sehen: es sind es genau diese Gespräche die mit unserer indentitären Subkultur-Blase, in der wir uns als Linke in Berlin sehr gut eingerichtet haben, brechen und uns die Möglichkeit geben, fern von Theoriediskussionen ganz praktisch wieder einen Zugang zu unserem revolutionären Subjekt zu finden, auch wenn wir dafür unsere persönliche und kollektive Wohlfühlzone verlassen müssen. Die Kombination aus Infotisch und Türgesprächen empfanden wir als besonders erfolgreich.

Mindestens genauso wichtig wie die Untersuchung selbst, ist die Auswertung dieser. Dazu gehört neben der Analyse der einzelnen Gespräche das „in Kontakt bleiben“ mit den Menschen, die wir während der Untersuchung kennenlernen konnten. Beides läuft gerade sehr intensiv an. Die Verantwortung am Ball zu bleiben, ist uns dabei sehr bewusst!

Abschließend können wir sagen, dass die militante Untersuchung für die radikale Linke ein wichtiges Instrument sein kann, um wieder den notwendigen Kontakt zur Zivilgesellschaft zu finden. Sie bietet auch eine Möglichkeit eine linke Gegenerzählung mit Leben zu füllen und ist somit ein erster Versuch verschiedene Kämpfe in eine verbindliche Organisierung zu überführen. Im speziellen in Bezug auf die Untersuchung in der Koloniestraße können wir sagen: trotz der Schwierigkeiten war unsere erste militante Untersuchung ein Erfolg und hoffentlich der Beginn eines Organisierungsprozesses im Kiez.

Für eine widerständige Gesellschaft!
Für eine Kollektivierung des Alltags!
Ideologische Hegemonie der herrschenden Klasse brechen!
Kiezkommunen aufbauen!

Kiezkommune Wedding